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Was bedeutet Nähe für Künstler*innen mit Sehbehinderung?

Interview Andreas Brüning (AB) mit Sophia Neises (SN)

AB: Einführung

Sophia Neises ist Performerin, Theaterpädagogin und Schauspielerin. Sie ist sehbehindert und 28 Jahre alt. Sophia Neises hat mit verschiedenen Choreografen zusammengearbeitet, unter anderem mit dem us-amerikanischen Choreografen Jess Curtis. 2019 ist sie in der inklusiven (Tanz)Performance (in)visible in Berlin und San Francisco aufgetreten.

AB:

Deine Kunst ist sehr körperlich. Was bedeutet Nähe für dich als sehbehinderte Performerin? Das Stück (in)visible wurde als Dunkeltanz unter anderem von sehbehinderten Menschen getanzt und richtete sich auch an ein seheingeschränktes Publikum. Wie hast du dabei Nähe wahrgenommen? 

SN

Ich glaube, nur über die Nähe kann ich überhaupt als Performerin irgendwie auch ne gewisse Art von Energie von mir aufs Publikum übertragen, also, ob’s intensiver ist zurzeit oder ob’s leichter ist. Ich hab das Gefühl, über die Nähe hat sich für mich eigentlich so die Atmosphäre, die ich irgendwie gerade in mir trage, aufs Publikum übertragen. Und ich glaube, das, ich würde sagen, das nehme ich ohne ne physische Nähe eigentlich nicht wahr. Und für mich als Performerin wars mal eine total spannende Erfahrung, weil ich sonst beim Performen höchstens die erste Reihe sehe und – ach, meistens auch noch nicht mal, und ich glaub, so geht’s eigentlich den meisten, die auf der Bühne stehen, ja, da wahrzunehmen, so welche Reaktionen es sind. Und wir haben viel mit dem Publikum dann sogar auch interagiert, also nicht nur nah an ihnen getanzt, sondern es gab auch Interaktion. Und da zu sehen, ob jemand lächelt oder verängstigt schaut, oder zu hören, ob jemand schnell und ruckartig einatmet oder so, das waren für mich auch superschöne Momente, wo ich gemerkt habe: Hier ist so viel Austausch und so viel Synergie, die, die ich sonst, glaub ich, verpasse. Quasi für mich, ja. Ja, für mich hat diese Nähe auch diese Arbeit total bereichert und irgendwie so ne totale Ästhetik und ne Schönheit in etwas gebracht, was, glaub ich, von Jess eigentlich intendiert war als Barrierefreiheit. Aber für mich hat das eigentlich so ne ästhetische Ebene nochmal über das ganze Stück gelegt.

Und ich hab in einer anderen Performance noch getanzt, in den Sophiensälen an den Tanztagen 2018, mit Zwoisy Mears-Clarke, und dort haben wir sogar über permanente Berührungen gearbeitet. Also, es das Publikum war mit uns im Dunkeln, und wir hatten dort Körperkontakt mit den, mit dem Publikum, und da ging es auch genau darum: Wie begegnen wir uns ohne visuelle Eindrücke? Was passiert, wenn wir ja, auch nicht urteilen über visuelle Eindrücke, über andere Menschen? Wie begegnen wir uns dann? Und das hatte gar nichts mit Barrierefreiheit in dem Sinne zu tun. Es ging einfach nur um die Erforschung von nicht-visuellem Tanz und welche Qualität das hat. Und da, muss ich sagen, hab ich diesen Austausch zwischen mir und dem Publikum als ebenso bereichernd empfunden, und dass auch für mich jede Performance anders war, jede Performance unglaublich lehrreich und berührend und emotional und schön, und ich das Gefühl hatte, ich kann hier Menschen einladen in einen Tanz. 

AB

Was würdest du sagen, was löst diese Berührtheit beim Publikum aus? Welchen Wert hat sie für das Publikum, vielleicht sogar für die Gesellschaft? Liegt in dieser Berührtheit eine besondere Form von Kommunikation, von Resonanz oder einfach nur eine glückliche Begegnung?

SN

Ich glaube, durch Dunkelheit, zum Beispiel, im Publikumsraum oder auch auf der Bühne, dass in der Dunkelheit und in dem Miteinander und in der Berührung Menschen so stark wahrnehmen, dass sie beeinflusst sind von den Menschen um sie herum, dass sie nicht diese Individuen mit Riesen-Egos sind, dass sie auch auf ne positive Art ne Abhängigkeit haben mit jedem anderen Menschen und irgendwie weltweit, dass wir eigentlich vernetzt sind und aufeinander angewiesen sind. Und ich glaube, in dem Moment, wo ich das Publikum durch, zum Beispiel, Dunkelheit in eine Abhängigkeit von mir bringe, in der sie sich aber wohlfühlen, weil sie wissen, ich bin Performerin, ich weiß gerade, was ich tue, ich pass auf sie auf, dass sie da, ja, dieses positive Gefühl von Jemand unterstützt mich und, ja, dass das etwas Positives ist irgendwie, wenn auch jemand von mir abhängig ist, oder dass irgendwie – ist gerade schwer zu beschreiben -, dass es irgendwie eine Verbindung zwischen uns Menschen halt gibt, und dass jetzt übertragen: Wenn ich jetzt im Alltag unterwegs bin und jemand frage: Hey, sorry, welcher Bus ist das? Und irgendwie dann zu verstehen: Ja, irgendwann bin ich vielleicht auch mal abhängig von ihr, weil ich bin dann bei ihr in der Performance, und da ist es dunkel, und da sag ich jetzt vielleicht auch einfach mal, welcher Bus das ist, weil gerade ist sie abhängig von mir. Und dann dieses, ja, sich irgendwie Stützende in der Selbstverständlichkeit zu erleben, ist, glaub ich, ja, oder ist für mich ein Mehrwert. 

AB: 

Wie bereitest du dich auf deine Performance vor? Natürlich mit dem Ensemble und dem Choreografen. Aber gibt es darüber hinaus Kompetenzen, die du dir erst einmal selbst aneignen musstest, um überhaupt auftreten zu können? 

SN

Ich bin mir meiner Behinderung bewusst. Ich weiß, was ich brauche, ich geb vorher eine Art Access Rider, also, ein Pamphlet „So, das brauch ich als behinderte Performerin“, das gebe ich raus. Ich bin mir meiner Behinderung bewusst und irgendwo vielleicht auch Grenzen bewusst oder Wünschen bewusst, um aber dann auch in den Modus zu kommen, die Behinderung zu vergessen. Und dann kann ich gut performen und arbeiten, wenn ich irgendwie das Gefühl habe: Dieses System ist established. Also: Erster Schritt – sei dir deiner Behinderung bewusst, zweiter Schritt – vergiss sie.

AB

Dein Motto: „Erster Schritt – sei dir deiner Behinderung bewusst, zweiter Schritt – vergiss sie“, könnte die Headline für ein Empowermentprogramm sein. Was könnte dich auf deinem Künstlerinnen-Weg konkret weiter unterstützen?

SN

Wenn ich jetzt sagen würde, was ich bräuchte, wär wahrscheinlich wirklich ein Coaching, wie ich gut über die Behinderung sprechen kann. Schreib ich’s überhaupt in ne Bewerbung? Also solche Verfahren wären, glaub ich, für mich unheimlich hilfreich, weil ich ganz oft missverstanden werde. Also, ich bin weder blind, noch sehend, ich häng irgendwo dazwischen. Man sieht es mir, ich glaube, erst auf den zweiten Blick an. Und dann ist es oft …, ich schreib dann über die Sehbehinderung, versuch, es auszuformulieren, und dann komm ich irgendwo an, und die Leute wundern sich unheimlich. Und ich hab auch gehört: Hör mal, du siehst ja so normal aus dann aber plötzlich fragen: Ja, kannst du denn überhaupt schreiben und lesen, also so … Ich werde ständig total, ja, unterschätzt oder überschätzt. Ich find es unheimlich schwierig, ne adäquate Sprache zu finden dafür. Das fällt mir immer wieder auf, dass mir das hilfreich wäre. Und auch, wenn mir dann Diskriminierungen auffallen, dann sagen ja alle: Ach, das meinte ich ja gar nicht böse und fühlen sich angegriffen, wenn ich ihnen Diskriminierung vorhalte. Und da für mich irgendwie einen besseren Weg zu finden, zu beschreiben: Ja, aber wenn du mir über den Fuß fährst, ist mein Fuß gebrochen, ob das jetzt Absicht war oder nicht. Du bist mir über den Fuß gefahren, und er ist gebrochen. Da irgendwie zu sagen … Diskriminierung ist passiert. Das hat gar nichts mit deiner Intention zu tun. Diskriminierungen passieren ja nicht mit ner schlechten Intention, meistens. Das hat ja meistens damit gar nix zu tun. Und irgendwie da, ja, Wege zu finden, mit Nichtbehinderten zu sprechen, ist, glaub ich, wäre für mich superhilfreich, und im Kunstbetrieb, ich glaube, auch nochmal technische Sachen und so: Wie kann ich in Förderanträgen meine Behinderung beschreiben? Muss ich sie da überhaupt beschreiben? Beschreib ich sie besser nicht? Was sind Fördertöpfe, wo ich mich eher hinwenden könnte? Was sind Möglichkeiten für Menschen, die irgendwie viele, ja, normative Anforderungen eher nicht erfüllen? 

AB

Was wünscht du dir sonst noch?

SN

Ja, dass ich weiterhin viele spannende theaterpädagogische Projekte machen kann, wo ich mit supervielen Menschen in Kontakt komme, die einfach Lust auf Tanz und Theater haben, und das völlig frei ist von irgendwelchen, ja, Zwängen, und sie müssen Geld verdienen oder sonst was, dass wir, ja, dass ich als Theaterpädagogin das immer wieder schaffe, diesen Raum von Freiheit für Menschen zu kreieren, und wo sie kreativ werden können und sich selber darin verwirklichen können. 

AB

Das war die Performerin und Theaterpädagogin Sophia Neises aus Berlin im Interview mit Andreas Brüning.