
Eveline Schindlers Lebenslauf begann 1953 in Biel, Kanton Bern in der Schweiz mit einer Urkundenfälschung. Der Vater hatte ganze 8 Tage gebraucht, um die Geburt seiner Tochter beim Standesamt zu melden. Auf Drängen der Mutter kam er dann endlich seiner Pflicht nach und als er mit der Geburtsurkunde endlich am Küchentisch saß, stellte er fest, dass der Standesbeamte Eveline mit i, statt mit einem y geschrieben hatte. Y entspricht der französischen Schreibweise von Evelyne. Es war dem Vater allerdings zu viel deswegen noch einmal zum Rathaus gehen zu sollen und daher blieb er einfach am Tisch sitzen, holte seinen Tintenfüller aus der Jackentasche und überschrieb das i mit einem y. Dabei blieb es. Daher schreibt die Namensinhaberin ihren Vornamen zum Jux manchmal mit i plus y! Das sieht dann so aus: Eveliyne. Der Nachname Schindler blieb von solch künstlerischem Beiwerk jedoch bis zuletzt unberührt.
Zufälligerweise entdeckte die Autorin etwa 50 Jahre später in einem roten Ordner, der vereinsamt verstaubt im Keller lag, ein Foto von einem strahlend goldlockigen, blonden Mädchen. Windelbepackt, in der linken Hand einen Steiffteddy haltend, etwas unbeholfen mit dickem rechtem Knie daher wackelnd. Leicht x-beinig im weißen Hemdlein durch die Kameralinse den Papa anhimmelnd. Wegen dieses dick geschwollenen Knieleins waren die Eltern in der Heimatstadt beim besten Arzt mehrfach vorstellig geworden. Dieser süße Knopf war nie gerobbt, mied die Treppen und rannte nicht umher. Die Cousins trugen sie beim Spielen die Treppen rauf und runter. Jahre später machte das dann der Vater, etwa an einem kalten Herbsttag in Zürich Kloten, dem stolzen Flughafen, als ein neues, sehr großes Flugzeug der Swissair erstmals gelandet ist. Die Industrietreppen zur Zuschauerplattform waren mit solchen Knien unüberwindbar. Dreizehnjährig Prinzessin auf der Erbse zu sein, war wunderbar und andererseits vor Publikum sehr beschämend.
Französischsprachig kam das Kind auf die Dorfschule und brauchte acht Jahre, um endlich eine gute Schülerin zu werden. Draußen in der Natur am Hof, auf den Wiesen und in den Wäldern, bei den Handwerkern und im Stall war ihre eigentliche Schule. Das Spielen in der Natur hat ein Leben lang Kraft gespendet.
Mit etwa neun Jahren passierte es! Im Wald Indianer spielend, von einem Versteck zum anderen rennend, knickte das rechte Knie ein, ein Misstritt war die Folge. Seitdem humpelte das Kind, bis mit elf Jahren endlich eine Operation Abhilfe schaffte. Es folgten im Laufe von drei Jahren drei weitere Operationen an beiden Knien und endlose Wochen auf dem Bett, ohne Reha, ohne Schulunterricht und ohne Schmerzmittel. Einsamkeit machte sich breit. Es kümmerte niemand. Nur die Großmutter war aufmerksam und begleitete das halbwüchsige Kind durch seine Pubertätszeit, die einsam blieb. Keine Sportstunden, kein Tanzen, keine Wanderungen. Immer allein und schmerzerfüllt.
Nach der Schule ging es mit einer Keramikerlehre weiter, die wegen der nicht bekannten Rheumaerkrankung nach zweieinhalb Jahren frühzeitig beendet werden musste. Mit einem heftigen „Hexenschuss“ brach mit 16 Jahren der erste, große Krankheitsschub im Erwachsenenalter aus. Den Abschluss ihrer Lehre holte die leidenschaftliche Keramikerin allerdings dann extern, mit 34 Jahren und neben ihrer eigenen Familientätigkeit nach. Der Vollständigkeit halber wurde gleich noch eine Meisterprüfung dazu abgelegt. Das war dann in Deutschland. Deutschland war und blieb ab dem siebzehnten Lebensjahr ihr Migrationsland und wurde Heimat.
Nach Abschluss eines praktischen Jahres an einer kleinen, neuen Waldorfschule in Niedersachsen, wurde ab 1972 in 6 Trimestern ein Lehrerseminar absolviert, welches mit dem obligatorischen Praktikum in New York seinen Abschluss fand. In New York! Es folgten bis 1977 die Jahre als Klassenlehrerin mit den Fächern Französisch und Kunst.
Trotz aller nicht sichtbaren, in jüngeren Jahren schweren Krankheitsschüben mit all ihren Begleiterscheinungen, entwickelte sich die Autorin bis 2002 zur energischen Familienmanagerin mit 3 Töchtern, zwei Hunden, einem Gemüsegarten, Bienen und einer Töpferei samt vielen Kursen in Schulen und an der Volkshochschule in Reutlingen.
Nach weiteren Krankheitsphasen und Operationen folgten mehrere Studien und Diplome, welche zur Zulassung in die Therapeutenliste für Legasthenie und Dyskalkulie des Jugendamtes Breisgau-Hochschwarzwald befähigten. Viele Jahre im eigenen Institut als Therapeutin für betroffene Kinder und Jugendliche folgten. Die therapeutische Arbeit förderte und unterstützte schwere wie auch leichtere von Legasthenie Betroffene.
Das Schönschreiben im Keramikerhandwerk, das Recht-Schreiben in der Schule und später in der Therapie wurden ein Leben lang von Tagebucheinträgen, Essays und Aufsätzen, dem Schreiben von Märchen und Familiengeschichten begleitet. Als 2018 plötzlich die Augen ernsthaft erkrankten waren rasch schwere Sehverluste die Folge. Alle geliebten visuellen Tätigkeiten wie Fotographie, Malen und Zeichnen wurden sehr erschwert bis unmöglich und die technische Welt des Computers, des iPads, des Smartphones und der KI entpuppte sich zum Segen im letzten Lebensabschnitt. Ab da verwandelten sich alle nicht mehr möglichen künstlerischen Tätigkeiten hin zum Schreiben und Gestalten der Sprache. Gelesen wird jetzt mit den Ohren. Auch auf Französisch. Ganze Nächte lang.
Freiburg im Februar 2024