03.30 Reuterkiez
…und da war ich.
Im Hinterhof eines typischen Berliner Altbaus irgendwo in der Neuköllner Reuterstraße, 1975. Im Schlafzimmer einer 2-Zimmerwohnung ertönte ein erschöpfendes Schreien.
Um genau 03.30 Uhr schrie meine Mutter hysterisch los, denn ohne jede Vorwarnung kam ich spontan und etwas zu früh auf die Welt. Die Hebamme, selbst hochschwanger, verspätete sich…
Ich lag vor meinen Eltern im Bett und meiner Mutter war vorher nicht klar gewesen, dass sie ein Kind mit nur einer Hand auf die Welt bringen würde. 1975 konnte der Arzt mit seinen Möglichkeiten das noch nicht erkennen und daher war es eine Überraschung. Die Nabelschnur hat sich um die noch nicht ausgebildete linke Hand gebunden und war teilweise verklebt. Eins, zwei, drei löste mein Vater die Nabelschnur ab, klatschte meiner Mutter eine Ohrfeige ins Gesicht und dann klingelte doch noch die Hebamme an der Tür.
Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass, so wie mein Leben anfing, mit einer Hausgeburt, Chaos und Geschrei, sich in ähnlicher Weise ein roter Faden auch durch den Rest meines Lebens schlängelt, ganz still und leise wie eine Blindschleiche durchs Gras.
Punktum, ich ging 1982 zur Grundschule. Bekam eine Hauptschulempfehlung. Machte trotzdem meinen Realschulabschluss. Mein Traum von einer Goldschmiedeausbildung wurde im Keim erstickt, dafür bekam ich die Empfehlung, im Büro bei der Bewag oder Gasag zu arbeiten. Würg. Meine Aussicht auf ein Handwerk war gleich Null. Wie das Wort schon sagt, braucht man dafür „Hand“ – und meistens zwei. Meine Mutter war überzeugt, dass ich meine Chancen erhöhen können würde, wenn ich mein Abitur nachholte. Nachdem ich stundenlang in einem Praktikum bei der Bewag Kaffee aufsetzte, Akten sortierte und unzählige Briefe zählte, entschied ich mich, den Vorschlag meiner Mutter umzusetzen. Sogar Abi klang da um einiges aufregender.
Nach dem Abitur lief erst mal wieder nichts, zumindest was eine Ausbildung oder gute Arbeitsstelle anging. Ich jobbte mich bei Heimfrost im Telefon- und Tiefkühlverkauf, bei McDonalds zwischen Fritten und Cheeseburgern und mit dem Verteilen von Werbeflyern bei Schnee und Regen in den Wahnsinn. Aber es gab noch die Berlinzulage. Ein letztes Mal, 8 DM.
Mit dem Geld von der Flyerverteilung flog ich für knapp 2 Monate nach London. Ich war erst 4 Tage im Hostel, dann in einem Zelt in einer Slumgegend in Tent City. Von London aus fuhr ich eine Woche nach Liverpool. Ich überlegte, ob es mir möglich wäre, dort an einer der beiden berühmten Kunsthochschulen zu studieren. Nur ein wunderschöner Traum, da mir nach Eingangsgesprächen klar wurde, dass sie dort zwar gerne deutsche Studierende aufnahmen, mir aber dann doch das nötige Kleingeld fehlte. Selbst mit Stipendium hätte ich eine Barclaycard mit 20.000 Pfund gebraucht.
Zurück in Berlin war ich zwar motiviert und wusste, ich wollte etwas mit Kunst oder Design machen, aber egal, was ich versuchte – ob Fotografie im Berliner Letteverein, oder Modedesign an der Hochschule der Künste – ich wurde abgelehnt oder konnte es mir einfach nicht leisten.
Ich entschied vorerst trotzdem mit den Bewerbungen weiterzumachen, nebenher zu jobben, und mich mit meinen Eltern über diese Entscheidung zu streiten. Sie waren überzeugt davon, dass es besser wäre auf das (damalige) Jobcenter zu hören und entweder auf das Angebot in einer Behindertenwerkstatt einzugehen, oder noch ein Praktikum im Büro mit Hilfsarbeit zu absolvieren. Es gab unendlich viele Möglichkeiten für mich, mit einer Hand, vom Jobcenter in eine Ausbildung für Behinderte integriert zu werden. Integration hieß und heißt für mich jedoch gerne auch heute noch öfter mal: Ausgrenzung.
Es folgten depressive Verstimmungen und mehr: Nach etlichen Konflikten flog ich zu Hause raus. Ein Jahr lang hatte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern.
Ich bekam Sozialhilfe. Nach eingehender Beratung für Behinderte, die ich nach einem Monat in Anspruch nahm, auch eine kleine Wohnung und Zuschüsse für eine Erstausstattung. Ein Monat ohne Geld fühlte sich an wie Jonglieren mit bissigen Ratten. Jede Anfrage bei Familie oder Freunden hinterließ verbale und psychische Narben. Geld, das ich für wichtige Dinge gespart hatte, ging für Kuchen und Gefälligkeiten Dritter, vor allem aber für BVG Karten drauf. 1200 DM weg, für nichts.
Meine erste Wohnung lag in einem Hinterhof am Tempelhofer Feld.
Flugzeuge 50 Meter entfernt über den Dächern.
Ich dachte an Casablanca, warum auch immer. Für mich total romantisch.
Mein Klo in der ehemaligen Speisekammer ohne Heizung mit einfach verglastem Fenster und Haken fand ich damals besonders charmant. Eissterne im Winter, hübsch. Meine Duschkabine stand direkt neben dem Herd und brauchte ’ne halbe Stunde, um aufzuwärmen. Das Schönste war mein großer Balkon im 5ten Stock, auf die monatliche Blasenentzündung aufgrund meines stressigen Lebens hätte ich hingegen gerne verzichtet.
Dort wuchsen Tomaten und Kartoffeln in schwarzen Bautuppen. Es war hippiemäßig schön.
Allesbrenner und Freiheit waren meine späte pubertäre Erfahrung. Ich gab mein Heizungs- und Kleidergeld für Konzerte und Partys aus. Meine erste Beziehung habe ich in dieser Zeit hinter mir gelassen. Bald zog ich um in eine 2-Zimmer-Wohnung, leider ohne einen wunderschönem Balkon, dafür mit Wanne und Klo in einem beheizten Raum.
Nach vielen Nächten zwischen Partys und Aushilfsjobs entschied ich, doch noch mal zur Schule zu gehen. Ich lernte Neue Medien, machte meinen Jugendleiterschein und absolvierte einige Workshops und Kurzausbildungen. Unter anderem machte ich eine vom Arbeitsamt geförderte Ausbildung „Bühnenbild“ und wurde Mediengestalterin. Ich liebte es.
Neue Medien und Mediengestaltung waren mein Fatum, mein Kismet. Dort lernte ich maßgebende Menschen meines Lebens kennen: Biene, Nadine, Norbert und Max. Eine der wichtigsten Personen, meine beste Freundin seit dem 6. Lebensjahr, Rita, begleitete mich in dieser Zeit und ist bis heute für mich da.
Neue Medien. Mediengestalterin. Bühnenbild.
Ich lernte und schloss ab. Meine letztendliche Wahl: Studium in Kiel und nicht in Weimar an der Bauhausuniverstät. Die Entscheidung fiel mir schwer, aber an der Kunsthochschule am Meer zu studieren entzündete größeres Interesse in mir und erwies sich für mich auch als bessere Wahl. Am Ende der Abschluss als Beste meines Jahrgangs, zusammen mit einer weiteren Person!
Bachelorstudium zur Kommunikationsdesignerin und folgend
Master of Fine Arts and Time Based Media.
Mein Highlight in meiner bisherigen Ausbildung:
Film, oder auch Time Based Media. Das ist bis heute meine größte Leidenschaft
neben Collagen. Beides ist für mich eine Arbeit mit Metaphern und Layern,
das Überlagern von Erzählungen, Geschehnissen und aufregenden Märchen.
Ich liebe den essayistischen, den fiktiven und den Autorenfilm. Ich glaube nicht daran, die Realität abzubilden, sondern viel wichtiger ist es, ein Gefühl zu vermitteln.
Das ist mein Leben.
Welten erschaffen, Träume erzeugen.
Realität mit Fiktion zu vereinen.